Angst vor Stille

Manchmal habe ich Klienten oder Klientinnen, die in den ersten Sitzungen sehr viel reden. Über alles Mögliche. Nur nicht über das, worum es wirklich geht. Sie reden, um zu überdecken.

Einige von ihnen sind es gewohnt, vor vielen Menschen zu sprechen, vor Investoren, vor einflussreichen Gremien, vor Mitarbeitenden, vor Freunden und Fremden. Manche sind die perfekten Entertainer. Sie fühlen sich gut und sehr sicher, wenn sie sprechen. Die darunterliegende Unsicherheit ist ihnen oft gar nicht bewusst. Diese kommt erst mit der Stille zum Vorschein, die sie krampfhaft zu vermeiden versuchen. Aus diesem Grund sind sie in der Regel schlechte Zuhörerinnen und Zuhörer. Manche sind Meisterinnen und Meister darin, die Konkurrenz stumm zu reden, und sind nicht präsent, wenn jemand anderes spricht, weil es in ihrem Kopf weiterredet.

Ich erlebe aber auch Klientinnen und Klienten, die merken, dass sie Angst vor der Stille haben, und sich selbst dabei beobachten können, wie sie die Stille mit allen möglichen Mitteln vermeiden. Manche können sich nicht entspannen, wenn es still ist. Dann biete ich ihnen an, dass wir die Stille gemeinsam erforschen, sie fühlen, ihr lauschen und schauen, was sie mit uns macht. Für viele ist das eine herausfordernde, aber gleichzeitig sehr wertvolle Erfahrung.

Kannst du die Stille zwischen zwei Worten, zwei Sätzen, zwei Gedanken aushalten?
Schenkst du der Stille manchmal deine ungeteilte Aufmerksamkeit?

Die Angst vor der Stille, vor der Verletzlichkeit, die sich in der Stille offenbart, vor der nicht gesagten Wahrheit, die in der Stille präsent ist, und die Angst davor, in der Stille die Kontrolle zu verlieren, limitiert uns.

Um unser Potential zu entfalten und unsere Mission  zu entdecken, müssen wir Meisterinnen und Meister der Stille werden und in der Stille den Wahrheitsgehalt unserer Worte und Gedanken prüfen, unsere innere Stimme wahrnehmen und innerlich etwas zur Seite treten. So kann sich entfalten, was in uns angelegt ist. Hilfreich ist auch, wenn wir – während jemand anderes spricht – präsent und geduldig den Raum halten, damit dieser Mensch sich von unserer stillen Gegenwart getragen fühlt und sich selbst zuhören und lernen kann.

Wer keine Zeit bekommt, um weise zu antworten, reagiert auf jede Frage mit standardisierten, automatisierten Antworten, die nur wiederholen, was man schon kennt. Neues zu denken und zu formulieren braucht Zeit. Wer keine Angst vor Stille hat, hat also den Vorteil, dass Leer- und Zwischenräume nicht immer gefüllt werden müssen. Stattdessen kann aus der stillen Leere heraus Neues entstehen und verborgenes Potenzial kann sich entfalten. Wer keine Angst vor Stille hat, hält zudem die innere Spannung besser aus, wenn Neues zuerst einmal irritiert, vertraute Sicht- und Denkweisen herausfordert und das Bewusstsein gedehnt wird. In der Stille kann Neues integriert werden und wird nicht automatisch zurückgewiesen.

Wollen wir nur das Vertraute, das uns weder irritiert noch herausfordert, bleiben wir bei gewohnten Mustern und wiederholen lediglich, was wir bereits kennen. Auch die Fehler. Sind wir offen für die Stille, für das Zuhören, aber auch für das Gefordertsein durch Neues, kann sich unser Potenzial leichter entfalten. Einzeln, als Paar, im Team und im Kollektiv.

Es gibt eine Stille, die immer da ist. In dir, um dich herum, hinter jedem Wort, unter jedem Stein, in jedem Zwischenraum, in jeder Pause.

Hörst du sie?

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