Das zweite Versprechen

Wie ich in meinem Blogbeitrag «Dein Versprechen» ausführlich beschrieben habe, gehe ich davon aus, dass jeder Mensch mit einer Aufgabe geboren wird, die entdeckt und erfüllt werden will. Jeder Mensch und jedes Wesen hat seinen Platz, wo er oder es willkommen ist. Es ist der ureigene Platz, der immer wieder neu und tiefer verstanden und immer wieder neu eingenommen, verkörpert und gelebt werden will, damit diese einzigartige Lücke im grossen Kreislauf des Ökosystems geschlossen werden kann.

Nicht nur jeder Baum, jede Blume, jedes Insekt und überhaupt jeder Teil der Natur hat seinen oder ihren Platz im grossen Kreislauf der Natur, sondern auch jeder Mensch, der demnach ebenfalls Natur ist und nicht von ihr getrennt betrachtet werden kann. Diesen Platz zu finden, ist das erste und tiefste Versprechen eines Menschen. Darin liegt die tiefste Sehnsucht, die grösste Erfüllung und das schönste Abenteuer. Das erste Versprechen birgt zwar Gefahren, schenkt aber auch Lebendigkeit. Jene Lebendigkeit, die zu leben wir geboren sind.

In den letzten Wochen ist mir immer deutlicher bewusst geworden, dass alle Menschen ein zweites Versprechen in sich tragen, das dem ersten erheblich im Weg steht: Irgendwann sehr früh in unserem Leben haben wir das Versprechen gegeben, auf den natürlichsten Ausdruck unseres tiefsten (ersten) Versprechens zu verzichten, es zu verdrängen und zu vergessen, um im Gegenzug von Familie, Gesellschaft und Gemeinschaft wohlwollend aufgenommen zu werden und somit soziale, emotionale und finanzielle Sicherheiten zu geniessen.

Will das erste Versprechen entdeckt und gelebt werden, muss das zweite Versprechen gebrochen werden. Dazu müssen Sicherheiten, manchmal die Arbeit, manchmal Freundschaften, Wertesysteme, Identifikationen oder Glaubensmuster und vor allem Schutzmechanismen, die einen zu sehr im Alten festhalten, aufgegeben werden, um das zu leben, wofür man auf die Welt gekommen ist. Das fühlt sich oft an wie sterben. Es beginnt damit, das loszulassen, was man weiss, und führt erst einmal zu einem Eintauchen ins Ungewisse. Aus der dunklen Tiefe des Unbekannten werden Erinnerungen an die Seele – die ureigene Aufgabe, der ureigene Platz – ans Licht geholt. Wiederholt haben mir Klientinnen und Klienten erzählt, dass sie Angst vor dem Sterben haben oder dass Sterbeträume sie begleiten, wenn eine grosse Transformation und manchmal auch das Auflösen des zweiten Versprechens bevorstanden. Auch ich habe das so erlebt. Dieser Zusammenhang lässt viele Ängste in einem neuen Licht erscheinen. In manchen Fällen war die Angst vor dem Sterben so gross, dass die Transformation ohne Begleitung nicht möglich gewesen wäre. Wer an solchen Wegbiegungen nicht kompetent begleitet wird, bleibt oft in den Ängsten und allen damit einhergehenden Symptomen stecken.

Das friedvolle, aber auch nachhaltige Auflösen des zweiten Versprechens wird mich in den nächsten Wochen und Monaten persönlich und in meiner Arbeit weiter beschäftigen. Ich habe noch viel zu lernen und zu entdecken. Darauf freue ich mich sehr, selbst wenn ich jetzt schon weiss, dass das Auflösen des zweiten Versprechens und somit das Loslassen von Sicherheiten Mut braucht. Ich beobachte diesen Übergang immer wieder als wichtigen Schritt vom ängstlichen, abhängigen, fremdbestimmten und dadurch unreifen Erwachsenen zum selbstbestimmten Erwachsenen, der sich seiner Verantwortung in der Welt bewusst ist. Oder auch vom wissenden Erwachsenen zum weisen Erwachsenen.

Vielleicht erleben wir solche Übergänge in Zukunft häufiger. Das wäre eine erfreuliche Entwicklung. Noch braucht es für diese wichtigen Schritte den unbedingten Willen – manchmal begleitet von Leidensdruck –, das erste Versprechen und damit seine ureigene Bestimmung und tiefste Sehnsucht zu leben und seinen ureigenen Platz einzunehmen. Egal ob die anderen diesen Wandel gut finden und ob der Weg sicher ist. Sich Schritt für Schritt an sein erstes Versprechen zu erinnern und seinen ureigenen Platz immer wieder neu und verantwortungsvoll zu verkörpern, ist ein Lebensweg. Neben Mut braucht es Begleitung, Freundschaft und im besten Fall eine Gesellschaft, in der alles darauf ausgelegt ist, dass alle ihren ureigenen Platz im grossen Kreislauf der Natur einnehmen und für die Erfüllung dieser Aufgabe das zweite Versprechen brechen dürfen.

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