Weinen
Die meisten von uns sollten viel mehr weinen. Weinen ist heilsam. Es reinigt den Körper und die Seele. Weinen löst Spannungen, hilft dabei, sich zu spüren, und fördert dadurch Lebendigkeit. Echtes Weinen berührt und bringt Nähe. Wer weinen darf, kann die Energie, die sonst für Härte und das Unterdrücken verloren geht, für anderes gebrauchen. Im Weinen liegt die Schönheit von Regentropfen, die in der Morgendämmerung glitzern.
Erlaubst du dir und anderen zu weinen?
Ich glaube, ich weine mehr als früher.
Und es tut mir gut. Ich merke, wie es mich weicher macht. Liebevoller mir selbst, anderen und der Welt gegenüber.
Letztens habe ich geweint, weil der Gesang einer jungen Frau mich zutiefst berührt hat. Ihre Stimme schien direkt aus ihrem Herzen zu kommen. Keine Schutzmauer, keine Fassade, die viele Stimmen oft dumpf klingen lassen. Ihre Stimme war nicht dumpf, sie hatte eine Frequenz, deren Schwingung ich auf meiner Haut und bis ins Innerste meines Körpers spüren konnte, die mein ganzes Wesen berührte, mich verletzlich und weich, aber auch zutiefst lebendig werden liess. Mein Herz wurde offen und mutig, und ich war froh, dass ich das Weinen zugelassen hatte.
Zwei Wochen zuvor hatte ich aus einem ganz anderen Grund geweint. Ich hatte es satt, nach zwei Monaten immer noch zu husten. Der Husten war wirklich hartnäckig und wollte einfach nicht weggehen. Ich fragte mich, ob mich wohl irgendetwas beschäftigte, was dem Körper die Kraft zur Heilung nahm. Dass emotionale Prozesse dem Körper die Kraft zur Heilung nehmen, habe ich viele Male bei Klienten erlebt. Besonders eindrücklich war das bei Klientinnen, die mit Long Covid zu mir kamen. Wenn wir an die unterdrückten Themen herankamen – die oft schon sehr lange unterdrückt worden waren – und wenn diese Themen bearbeitet, ungelöste Konflikte gelöst, Dinge vergeben, Unausgesprochenes gesagt und wichtige Schritte getan werden konnten, dann hatte der Körper wieder Energie für die Heilung. Wenn die Symptome verschwanden und die Energie zurückkam, war das oft fast wie ein Wunder.
Wie ein Wunder war es auch bei mir. Nachdem ich also mehr als zwei Monate an diesem Husten herumgedoktert hatte, nahm ich mir endlich die Zeit und meditierte zu diesem Thema. Überrascht fand ich in meinem Brustkorb viele ungeweinte Tränen aus Kindheit und Jugend, die meine Brust eng werden liessen. Ich weinte. Atmete und weinte. Über vieles, was in meinem Unterbewusstsein verborgen gewesen war und sich langsam nach oben zum Tagesbewusstsein gearbeitet hatte. Ich bin sicher, dass noch nicht alle Tränen geweint sind. Da ist noch mehr Befreiung, noch mehr Erleichterung möglich. Aber offensichtlich waren es genug Tränen, um meinen Körper zu entlasten. Denn schon am nächsten Morgen, einem Samstag, war der Husten fast verschwunden, und am Montag hustete ich gar nicht mehr. Das kann natürlich auch Zufall sein. Das kann es immer. Aber die Kraft der Tränen ist für mich – nach fast 20 Jahren Arbeit und unzähligen Sitzungen, in denen viel geweint wird – unbestritten.
Zwischen diesen beiden Ereignissen war ich zwei Tage in Barcelona. Für alle, die sich nun fragen, ob das mit meiner Sorge um die innere und die äussere Natur zusammengeht: Ja, wir sind mit dem Zug gereist. Die Stadt an sich war schon beeindruckend. Was mich aber zutiefst erschütterte und traurig machte, waren die vielen Hilfe suchenden, zum Teil stummen und stumpf gewordenen Blicke der Bettlerinnen und Bettler. Diese Armut ergriff mein Herz. Ich weinte mehrmals, und ich war froh, dass ich meine Augen vor diesem Elend nicht verschloss und verhärtete, sondern mich berühren liess, wie von jedem Elend, das mir begegnet. Das Fühlen des Elends macht mich demütig, es macht mich dankbar für alles Schöne und Gute, das ich habe – es ist so unendlich viel! –, es macht mich nachdenklich und hilft mir dabei, immer wieder bewusst zu wählen, wohin ich meine Energie, meine Aufmerksamkeit, meine Kraft, meine Liebe, aber auch mein Geld, die kleinen und die grossen Beträge, geben will. Damit ich meinen kleinen Teil dafür tue, dass eine Welt entstehen darf, die mich vielleicht eines Tages zu Tränen rührt, weil sie achtsam ist zu allen und allem, weil alles – auch das Materielle, das Wasser, die Steine und die Bäume – als beseelt verstanden und erlebt werden darf.
Zurück zur Kraft der Tränen. Ich habe Menschen erlebt, deren chronische Verspannungen, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen, Wutausbrüche und vieles mehr sich aufgelöst haben, nachdem sie endlich wieder einmal weinen konnten und durften. Das braucht manchmal Zeit. Oft auch Mut. Und Geduld. Vor allem bei jenen, die immer sehr tapfer sein mussten, und bei denen, die glauben, dass Weinen nichts bringt. Ich habe Paare und Teams erlebt, die dank dem Mut zu Tränen zusammengewachsen sind und viel Potenzial freigelegt haben.
Ich habe auch viele Menschen erlebt, die nicht wussten, was sie tun sollen, wenn jemand weint. Falls du dich überfordert fühlst damit, möchte ich dir sagen: Wenn jemand weint, darfst und sollst du einfach da sein. Oft gibt es nichts zu TUN. Einfach SEIN. Die Aufmerksamkeit nicht woanders hinlenken, sondern nur mit der Person präsent sein und den Raum halten, damit die Tränen ihre transformierende und heilsame Wirkung entfalten können.
Kannst du dableiben, wenn jemand weint?
Erlaubst du deinen Tränen zu fliessen und ihre transformierende und heilsame Kraft zu entfalten?