Potenzialentfaltung

Im Dunkel der Erde wartet der Samen geduldig auf seine Entfaltung. Alles, was er werden kann, ist in ihm. Wenn die Bedingungen gut sind, die Erde nicht gefroren ist, genügend Wasser und Wärme vorhanden sind, werden Wurzeln spriessen und später das Keimblatt. Nun braucht es auch Licht, und wenn die Bedingungen gut bleiben, die Erde nährstoffreich, sandig, lehmig, trocken oder stets feucht ist, der Wind nicht zu stark, es ausreichend Sonne oder Schatten gibt – alles so, wie es die Pflanze halt braucht –, wenn die Exkremente der Tiere den Boden nähren und die Bienen vielleicht helfen, die Blüten zu bestäuben… Dann wird aus dem Samen die schönste und kräftigste Version der Pflanze, die in ihm angelegt ist. Sind die Bedingungen dagegen schlecht, wird er sich anders entwickeln.

Jede Natur ist anders, jeder Kern, wenn er noch wild und natürlich ist, trägt sein ureigenes, einzigartiges Potenzial in sich. Auch wir Menschen tragen einen solchen Kern in uns. Und wie bei den Pflanzen ist dieser Kern einzigartig. Jede und jeder braucht andere Bedingungen, um spriessen und wachsen zu können. Bei Kindern ist es die Aufgabe der Erwachsenen, die sie umgeben, ihre Einzigartigkeit zu erkennen oder zumindest zu erahnen, und zu lernen, welche Umgebung und welche Bedingungen jedes einzelne Kind für seine Entfaltung braucht. Alle sind anders. Die einen sind zart, andere kräftig, einige wachsen schnell, andere langsam. Der stachelige Kaktus braucht die Wüste, die Seerose den Teich. Andersrum würden sie beide eingehen. Die Natur ist gegeben und kann nicht nach Belieben verändert werden. Es kann ihr aber, ihrem Wesen entsprechend, eine liebe- und verständnisvolle Umgebung geboten werden, in der sie sich entfalten und später ihre Gaben an die Welt grosszügig verschenken kann. Als Erwachsene haben wir selbst die Verantwortung, uns um unsere Natur zu kümmern, zu lernen, welche Bedingungen wir brauchen, damit wir uns entspannt, lebendig und kraftvoll fühlen. Es liegt an uns selbst, zu erkennen, was wir für unsere Entfaltung brauchen, und dies zu schaffen, zu suchen, zu finden und zu fordern. Gleichzeitig müssen wir Menschen und Orte loslassen, wo wir gegen unsere eigene Natur kämpfen und diese unterdrücken und der Anpassung opfern müssen, um angenommen zu sein.

Immer wieder braucht es das Akzeptieren der eigenen Natur, das Wahrnehmen ihrer Bedürfnisse, das Annehmen ihrer Empfindsamkeiten und das Anerkennen ihrer Stärken. Viele glauben, dass ihr Leben einfacher wäre, wenn sie anders wären – nämlich so, dass sie in die gegebene Umgebung passen und sich dadurch genauso gut entwickeln können wie jene, für die die gegebenen Bedingungen günstig sind.

Eine wichtige Voraussetzung für eine gesunde Entfaltung ist auch das Ablegen der harten Schale, die wir uns durch die notwendigen Anpassungen an ungünstige Bedingungen während der Kindheit und manchmal auch später im Leben haben zulegen müssen, die der Potenzialentfaltung jedoch erheblich im Weg steht.

Vieles können wir selbst tun. Das Akzeptieren der eigenen authentischen Natur, das Wahrnehmen ihrer Bedürfnisse, das Ablegen der durch Anpassung an widrige Bedingungen entstandenen Schutzmechanismen und das eigenständige Schaffen jener Bedingungen, die es braucht, damit sich das in uns angelegte Potenzial voll entfalten kann. Es braucht aber auch die anderen. Menschen, die verstehen, dass wir alle einzigartig sind, dass jede Natur anders ist. Es braucht weise Älteste, die sich von ihren Verhärtungen befreit haben und die bereit sind, für alle jene Bedingungen zu schaffen, die der jeweiligen Entfaltung des einzigartigen kraftvollen Potenzials dienen.

Spürst du deine einzigartige Natur, die sich durch dich entfalten und die Welt mit ihren einzigartigen Gaben reicher machen möchte?

Kennst du ihre Bedingungen?

Konntest du dich von den hemmenden Anpassungsmechanismen, der Enge, der Starrheit, dem Andersseinmüssen (und -wollen) befreien?

Hast du schon damit begonnen, dir in deinen Beziehungen, bei der Arbeit, in der Freizeit jene Bedingungen zu schaffen, die deiner Entfaltung dienen?

Stösst du dabei auf Widerstand oder auf Unterstützung und Verständnis?

Übernimmst du die volle Verantwortung, eine gesunde Welt für dich und für alle zu schaffen, soweit es in deiner Hand liegt, oder wartest du darauf, dass andere die Umstände schaffen?

Vieles aus der Natur lässt sich auf die Menschen und ihre Natur übertragen: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Aber günstige Bedingungen, für die Menschen etwa bedingungsloses Angenommensein, Räume zum Ablegen der Verhärtungen, ein Bewusstsein für das Einzigartige und Heilige in jedem Wesen – können dafür sorgen, dass aus der Dunkelheit jeder Erde – einem Wunder gleich – Leben spriesst, das die Welt beschenkt wie ein Baum, der im Spätsommer Äpfel trägt.

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