20 Jahre Selbständigkeit (Teil 2): Fühlen
Ich gehöre zu den Menschen, deren Art zu wissen und zu verstehen nicht zuerst im Denken, sondern vielmehr im Fühlen liegt. Bewusst gemacht hat mir das vor gar nicht allzu langer Zeit Eligio Stephen Gallegos, der Begründer von Deep Imagery/Personal Totem Pole Process®. Auf einmal ergab so vieles einen Sinn, und ich konnte auch mich selbst plötzlich besser verstehen. Ich bin sicher, dass mein Leben und meine Schulzeit einfacher gewesen wären, hätte mir früher jemand erklärt, dass es verschiedene Wege gibt, die Welt in sich aufzunehmen, zu verstehen und zu wissen. E.S. Gallegos, der auch Autor des Buches «Animals of the Four Windows: Integrating Thinking, Sensing, Feeling and Imagery» ist, erklärt, dass es vier Fenster des Wissens gibt: Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Imagination. Es gibt also Menschen, die Dinge selbst erleben, begreifen, beobachten und am eigenen Leib erfahren müssen, um sie zu verstehen. Andere – wie ich – müssen ein Gefühl für etwas entwickeln, damit sie es verstehen und in ihr Leben integrieren können. Wieder andere erleben, verstehen und lösen vieles auf der Ebene ihrer inneren Bilderwelten. Und dann gibt es noch diejenigen, deren Wissen vor allem im Denken ist. Sie haben es meist leichter in der Schule, ausser sie denken sehr frei, kreativ und eigenständig. Natürlich ist es hilfreich, wenn man alle Formen des Wissens entwickeln darf und die Stärken und Schwächen aller Zugänge kennt.
Mein Weg hat also beim Wahrnehmen begonnen. Beim Körper. Ich wusste intuitiv, dass all die Anspannungen, die Rücken-, Nacken- und Kopfschmerzen meiner Klientinnen und Klienten eine Ursache haben, die tiefer liegt als bloss das ungesunde lange Sitzen vor dem Computer. Immer und immer wieder fragte ich: Wann genau haben die Schmerzen angefangen? Wie war Ihr Leben zu jener Zeit? Gibt es Momente, in denen die Schmerzen nachlassen? Was würde der Schmerz sagen, wenn er sprechen könnte? Viele meiner Klientinnen und Klienten hatten sich diese Fragen noch nie gestellt oder hatten sich mit naheliegenden Erklärungen zufriedengegeben.
Mit meiner Hausärztin konnte ich über mein Interesse an den Ursachen, Geschichten und Botschaften von Krankheiten reden. Durch sie lernte ich 2007 das systemische Familienstellen nach Bert Hellinger kennen. Noch im selben Jahr besuchte ich eine vierteilige Weiterbildung mit dem Titel «Supervision und Training in systemischer Aufstellungsarbeit». Dort lernte ich, meine Klientinnen und Klienten als Teil eines Systems – einer Familie, eines Teams – und auch als Teil der Gesellschaft zu sehen, um die Ursache ihrer Symptome und den Ursprung ihrer oft unterdrückten Gefühle besser zu verstehen. Ich lernte, dass Gefühle manchmal übernommen werden und wie sie zurückgegeben werden können. In dieser Weiterbildung hörte ich zum ersten Mal von der Epigenetik und wie wichtig es für unsere Gesundheit ist, Emotionen und Bedürfnisse wahr- und ernst zu nehmen. Das bestätigte sich in den folgenden Jahren – durch das Begleiten meiner Klientinnen und Klienten, aber auch durch Bücher wie etwa von Dr. Gabor Maté «Wenn der Körper Nein sagt» – immer wieder.
Von 2009 bis 2013 machte ich die Ausbildung zur Praktizierenden der Rosen-Methode Körperarbeit und lernte, Menschen so zu berühren und zu begegnen, dass sich all das zeigen darf, was unter den Körperspannungen zurückgehalten wird. Und da waren nicht nur zurückgehaltene Bewegungsimpulse und zurückgehaltenes Potenzial, sondern auch ganz viele Gefühle.
Wenn wir Gefühle vermeiden wollen, bestimmen sie unser Leben.
Viele versuchen, ihre Gefühle zu kontrollieren. Das kommt in der Regel aus der Kindheit, als es so besser war für das Kind, weil es von Erwachsenen umgeben war, die keine Kapazität, kein Interesse oder keine Sensibilität für die Gefühle, die Bedürfnisse und das Erleben des Kindes hatten. Oft ist es dann wie bei einem Fluss, den man in einen Kanal zwängt: Irgendwann fliesst er über und es kommt zu Überschwemmungen. Dann sind die Betroffenen selbst und jene, die das miterleben, oft überfordert und verstehen nicht, was da gerade passiert ist. Sie fragen sich, wo diese Wut, diese Traurigkeit, diese Angst oder auch der Ausbruch einer Krankheit plötzlich herkommen.
Wenn wir als Kind gelernt haben, unsere Gefühle zu unterdrücken, ist es schwierig zu wissen, was uns wirklich glücklich machen würde. Wir können weder die Angst vor Nähe oder die Ursache einer Depression noch unsere Wutausbrüche verstehen. Und wir wissen nicht, warum wir wider besseres Wissen immer wieder zur Schokolade oder zum Alkohol greifen, warum wir Dinge kaufen, die wir nicht brauchen, und viel zu viel Zeit am Smartphone verbringen.
Es braucht Mut, Vertrauen und am besten eine professionelle Begleitung, um den lange Zeit unterdrückten Gefühlen zu begegnen. Aber es kann das Leben sehr viel leichter machen. Plötzlich verstehen wir, wo diese grosse Trauer, der Schmerz und die Wut herkommen. Plötzlich wird uns klarer, warum wir in gewissen Situationen mit Anspannung, Abwehr, Überforderung oder Suchtverhalten reagieren. Oder warum die Freude im Leben fehlt.
Wenn der verborgene Schmerz im Beisein eines mitfühlenden und verständnisvollen Menschen erlebt werden darf, gibt es auch Platz für tiefe Freude, Liebe, Verbindung, Lebendigkeit und für ein erfülltes Leben voller Gefühle.
Hinter vielen Gefühlen findet man Glaubenssätze. Das sind die tiefen, oft unbewussten Überzeugungen, die unser Leben bestimmen. Und da ging meine Reise als Nächstes hin.