Äussere und innere Orientierung

Wenn du magst, stell dir vor, du bist ein Kind. Du bist diese wunderbare Seele, welche die Welt mit ihrer Präsenz bereichert. Aber das weiss das Kind nicht. Es ist einfach. Es weiss nicht, wie ihm geschehen ist. Es weiss nicht, wo es gelandet ist. Es weiss nicht, wer es ist. Und so schaut es, beobachtet, hört zu und lernt.
Es lernt, dass es Dinge gibt, die sich angenehm anfühlen und andere, die unangenehm sind. Es lernt den Hunger und die Kälte, die Wärme, das Satt-, Müde- und Geborgensein kennen. Körperliche Erfahrungen. Es erfährt, wie es ist, wütend, traurig, froh oder zufrieden zu sein. Es erfährt die Welt der Gefühle.
Und dieses unschuldige Kind, das auf seine ganz eigene Weise versucht zu bekommen, was es braucht, um sich sicher zu fühlen und glücklich zu sein, um sich zu spüren, satt zu werden, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln und zu leben, weiss noch immer nicht, wer bzw. was es in seinem Kern ist und sucht nach Orientierung ausserhalb seiner selbst.
Und so schaut und beobachtet das Kind weiter. Ein Lächeln da, ein strenges Gesicht hier. Ein Lob für diese Anstrengung und für den Erfolg. Eine ruhige Stimme, wenn es dies tut und ein aufgeregtes Durcheinander, wenn es das tut. Es lernt zu denken und versucht zu verstehen, wer es ist und wo es im Leben hingeht, denn es braucht Orientierung.

Vielleicht hat dieses Kind Eltern und Menschen in der Umgebung, die es ansehen und als weises, beseeltes Wesen erkennen. Und sie schauen hin und hören zu, sind neugierig und offen zu sehen und zu lernen, was hier wachsen will und was dieses Kind zum Wachsen braucht. Die Anweisung, was das Kind braucht, kommt hier aus dem Kind selbst.
Manche Wesen brauchen viel Freiheit, manche viel Struktur, manche viel Rückzug und manche viel geistige Nahrung. Und alle brauchen sie bedingungslose Liebe und den weichen Blick*, der sie an ihr Beseeltsein und an ihre Essenz erinnert.

Vielleicht aber hat das Kind auch Eltern und Menschen in der Umgebung, die dem Kind ganz viel Orientierung geben wollen, damit es sich ganz sicher nicht so verloren fühlt wie sie selbst, die vergessen haben, wer sie sind und abhängig sind von einer Welt, die ihnen sagt, wer sie sind, wie sie sein sollen, was gut ist und wie man geliebt wird. Diese Orientierung soll ihr Kind von Anfang an haben. Sie zeigen ihm ihren Weg zum Glück. Zeigen ihm, wie und vor allem wer es werden soll. Und das Kind fühlt sich verantwortlich, es will es gut und richtig machen, es will gut zurechtkommen, und vor allem will es jemand sein. Das Kind lernt, dass andere besser wissen als es selbst, wer es ist und was es braucht, um glücklich zu werden.

Vielleicht sträubt das Kind sich gegen zu viel Anleitung von aussen und versucht, eigenständig und selbstbestimmt zu bleiben, bis es eines Tages einknickt und vergisst, dass sein Leben ihm gehört.
Wenn ich mit Erwachsenen arbeite, die auf diese Weise gross geworden sind, können sie sich oft genau erinnern, wann sie aufgehört haben, ihrer inneren Stimme zu folgen und angefangen haben zu werden, was man von ihnen will.

Wir alle sind gross gewordene Kinder und wissen nun, wie man rechnet und schreibt, wie man fremde Sprachen spricht und was wir werden wollen/sollen. Einen sicheren Job wollen wir haben, oft auch, weil sich die Menschen um uns herum entspannter fühlen, wenn sie uns in Sicherheit wähnen. Wir wollen Erfolg haben, damit wir stolz sein können, wir wollen glücklich sein, damit es für andere angenehm ist, unseren Geschichten zu lauschen.
Wir haben gelernt, dass wir nach unserer Leistung, nach unserer Position im Beruf, nach unserem Aussehen bewertet werden. Wir haben unsere politische Zugehörigkeit definiert, haben herausgefunden, welche Musik wir mögen und was wir gerne essen und wissen immer noch nicht, wer sie sind. Und so suchen wir immer noch nach Orientierung. Nach Lob, Anerkennung und Wertschätzung, die andere uns schenken. Wir versuchen, gut, stark und erfolgreich oder wenigstens zufrieden zu sein mit dem, was wir haben.

Wissen wir nicht, wer wir sind, bleiben wir orientierungslos und mit einer inneren Leere zurück, die wir meist zu füllen versuchen. Vielleicht leben wir aber auch mit einer nur halb oder ganz unbewussten, dennoch stets anwesenden Unsicherheit und einem in unserer Tiefe verborgenen Gefühl von Makel, den es wieder gut zu machen gilt.

Irgendeinmal, oft, wenn wir es uns im Leben einigermassen gut eingerichtet haben, ist es an der Zeit, nicht nur im Aussen, sondern auch im Innern nach Orientierung zu suchen.

Manchmal treten dann Symptome auf wie zum Beispiel Erschöpfung, Gefühle wie Sinnlosigkeit, Traurigkeit, Unausgeglichenheit, Schwierigkeiten in Beziehungen und bei der Arbeit, Motivationsverlust, Konzentrationsschwierigkeiten, chronische Verspannungen usw., die einen regelrecht dazu zwingen, in sich hineinzulauschen und zu lernen.

Sich nach innen zu orientieren bedeutet dann, sich spüren lernen, still werden, Pausen machen. Im Nichtwissen sein, spüren, wo Kraft herkommt, sich selbst vertrauen und ernst nehmen, loslassen von Menschen und Aufgaben, die einem nicht mehr gut tun. Zulassen von Neuem und noch Unbekanntem, das innerlich ruft. Jetzt gilt es, die Schmerzen und Talente des inneren Kindes zu entdecken und von der Stimme der weisen Frau und des weisen Mannes unterscheiden zu lernen. Und es hilft dem Gefühl, beseelt zu sein, Raum zu geben. Jetzt ist es Zeit, sich selbst nach Hause ins Sein und in die Präsenz zu holen und von hier aus zu wirken, insbesondere dann, wenn körperliche Kräfte schwinden und mit Muskelkraft und lauter Stimme nicht mehr kompensiert werden kann. Menschen, die ihre innere Orientierung gefunden haben, sagen von sich, sie seien ausgeglichener, authentischer, klarer, glücklicher, friedlicher und fokussierter aufs Wesentliche.

Wer die Aufmerksamkeit viel im Aussen hat, ob als Einzelperson, als Paar, als Team oder als grössere Gruppe – immer lohnt es sich, die Aufmerksamkeit auch nach innen zu wenden, um im Gleichgewicht zu bleiben.

Remembering soul ist somit ein Weg, der ins Gleichgewicht führt, in die innere Klarheit darüber, wer ich bin, wohin ich gehen will und mit wem (Beziehungen). Remembering soul ist aber auch die Chance, Antworten auf komplexe Fragen zu finden. Im Kleinen (individuell) und im Grossen (kollektiv). Antworten, die wir brauchen, um in Frieden mit uns selbst, unserer Umgebung und mit der Natur zu leben.

Remembering Soul

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