Es ist Zeit, der Weisheit den Vortritt zu geben

Wenn ich darüber nachdenke was wir Menschen an Wissen zur Verfügung haben, bin ich beeindruckt. Wir wissen, wie man ins Weltall fliegen kann, wie man Teleskope baut, mit denen man Sterne sehen kann, die mehrere Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt sind. Wir können kleinste Teilchen entdecken, Millionen von Pflanzen-, Gesteins- und Tierarten bestimmen, komplizierte Operationen durchführen und Medikamente entwickeln. Wir können Fabriken bauen und schnelle Autos, winzige Computerchips und gefährliche Bomben. Wir wissen, wie man Tunnel durch hohe Berge sprengt, wie man Düsenjets baut, riesige Passagierflugzeuge fliegt und können Geschichten über die Entstehung des Universums erzählen.

Unser Wissen ist unendlich, wird immer grösser und dehnt unseren Geist. Gleichzeitig geht aber auch altes Wissen verloren; unsere Verbindung zur äusseren und zur inneren Natur und die damit verbundene Weisheit scheinen sich aufzulösen.

Immer mal wieder frage ich mich, ob wir unser Wissen weise einsetzen. Und oft ist die Antwort Nein. Ich bin überzeugt, dass wir viel weiser leben und handeln könnten, wenn Weisheit uns mehr interessieren, wenn sie mehr gefördert, bewundert und gelehrt würde. In einer Gesellschaft, in der ewige Jugend, Status, Erfolg, Macht, gutes Aussehen, Likes und Leistung zählen, hat Weisheit einen schweren Stand.

Der Wunsch, ein weiser Erwachsener zu werden, ist bei jungen Menschen weit weniger verbreitet als der Wunsch, berühmt und erfolgreich zu sein. Auch bei Erwachsenen in Führungspositionen, die andere anleiten, begleiten, lehren, heilen und über viel Macht, Einfluss und Wissen verfügen, ist das aktive Bemühen darum, ein wirklich weiser Erwachsener zu sein, wenig verbreitet. Und es scheint, dass solche Bemühungen auch wenig Applaus bekommen. Zumindest vordergründig.

Den meisten Respekt, die grösste Anerkennung und Aufmerksamkeit bekommen jene, die Erfolg, Macht und Reichtum haben, Schönheit und vermeintlich ewige Jugend besitzen – egal, wie weise sie sind. Es ist sogar möglich, mit sehr wenig Weisheit, aber viel materiellem Besitz und einem ungesunden Lebenswandel sehr bekannt und bewundert zu werden.

Viele Konflikte, Probleme, Katastrophen und Krankheiten (z.B. Depressionen, Burnout, von Krankheiten begleitete Anpassungsschwierigkeiten an ein System, das kaum Raum für natürliche Entfaltung lässt) sind auf fehlende Weisheit zurückzuführen. Deshalb wünsche ich mir eine Kultur, in der das Erlangen von Weisheit die notwendige Voraussetzung ist, um ein respektiertes Mitglied der Gesellschaft sein zu können. Ein Mindestmass an Weisheit sollte die Bedingung sein für jede Aufgabe, bei der Führungsqualitäten gefragt sind.

Wir brauchen eine Kultur und somit auch Schulen der Weisheit. Wir brauchen weise Frauen und Männer, die jüngere und unerfahrene Menschen an die Hand nehmen und in ein weises Leben begleiten können. Das bedeutet auch zu zeigen, wann es Zeit ist, die Jugendlichkeit – so attraktiv sie auch ist – hinter sich zu lassen, um die Reise in ein verantwortungsvolles, weises Erwachsenenleben anzutreten. Und es bedeutet, Fragen nach der Seele, dem Sinn und der Bestimmung zu stellen. So kann auch der Respekt älteren Menschen gegenüber wieder wachsen. Weil die Ältesten dann als weise angesehen werden – und nicht als alt gewordene Jugendliche, die nie gelernt haben, ihre ureigene Bestimmung zu entdecken und zu leben.

Es ist Zeit. Zeit, die Weisheit in unsere Bildungssysteme und in die Gesellschaft zu integrieren. Sie zu bewundern und anzustreben.

Türen zu Weisheit sind Geduld, Stille, Spüren, Lauschen, Staunen. Eine seelenzentrierte statt egozentrierte Ausrichtung, ein Bewusstsein für den einzigartigen Platz jedes Wesens. Aussöhnung mit dem inneren Kind. Verbundenheit mit der inneren und äusseren Natur, Bemühungen um eine Welt, die gesund ist für Mensch und Natur, ein Bewusstsein für das Beseelte in allen und allem, Zugang zur weisen inneren Stimme. Ein Interesse für die wirklichen Ursachen von Krankheiten, Kriegen und Unstimmigkeiten aller Art, für Botschaften aus dem Unterbewussten, aus der Natur, aus der Stille, aus dem Sein. Verbundenheit mit allem. Suche nach Kontakt. Und natürlich Offenheit für einen Wandel zu einer Weltengemeinschaft, in der Weisheit etwas für alle ist.

Ich übe und lebe diesen Wandel jeden Tag. Es ist nicht immer einfach, geduldig zu sein, ruhig und klar zu bleiben und die weise innere Stimme wahrzunehmen. Aber es ist ein Weg, der mich immer wieder nach Hause in die Kraft, zur Selbstannahme, zur guten Disziplin, zum inneren Frieden, in die Liebe und in die Freude bringt. Es ist ein Weg in die Ausgeglichenheit, hin zu Sinn, Lebendigkeit, Abenteuer, Vertrauen, Verbindung und tiefer Erfüllung.

Kontakt

Share This